Jetzt beginnt die Alme, Geräusche zu machen. Sie säuselt, seufzt, blubbert. Sie wächst schnell. Ein paar Meter weiter erlebe ich sie schon als jemanden, der eine ziemliche Welle schiebt und mit pubertierendem Tosen auf sich aufmerksam macht. Wie sammelt sie diese Kraft ? Woher kommt all das Wasser? Nach weiteren Gehminuten wächst sich die Quelle endgültig zu einem mehrere Meter breiten, unbändig strömenden Bach aus. Das geht so schnell, ich komme kaum mit. Gemeinsam erreichen wir einen großen Teich am Dorfrand, der durch einen Erddamm aufgestaut wurde. Hier kann sich die Alme erstmal von diesem Schnellstart ausruhen. Sie wird still, als wolle sie sich besinnen. Und doch behält sie ihre angeborene Munterkeit. Mit aufsteigenden Bläschen und Ringen auf dem glasklaren Wasser verrät sie weitere unterirdische Zuflüsse, die sie nähren. Auch der Teich ist Quelle.
Ich bin mit einem Bewohner von Alme verabredet, der mir diesen Kraftort erklären will. Dass er ausgerechnet Kraft heißt, lässt uns beide schmunzeln. Wolfgang Kraft , 65, engagiert sich ehrenamtlich in der Alme AG. Der Verein will das eigene Dorf lebendig erhalten, dem Sog der nahen Städte zum Trotz. Die Anziehungskraft , die die Quellen auf Spaziergänger und Fernwanderer ausüben, spielt dabei eine wichtige Rolle; auch die örtlichen Gasthäuser profitieren davon.
EIGENTLICH ENTSPRINGT DIE ALME
EINEM OZEAN.
Kraft beschreibt das Wunder der Alme-Geburt so: Das Tal liege am Rande der Briloner Hochfläche, die in der Tiefe aus so genanntem Massekalk besteht. Der ist vor 350 Millionen Jahren hier abgelagert worden, von den Schalen absterbender Korallen, als alles hier Meer war. Der hohe Anteil an Kalk im Boden ist leicht auswaschbar, sodass die umgebenden Berge und Hügel im Inneren rissig und löcherig wurden. Regenwasser sammelt sich unterirdisch, und weil es sich im Mühlental an einer Schicht aus undurchlässigem Schiefer staut, tritt es hier zutage. Fazit dieser Erdgeschichte im Zeitraff er: Eigentlich entspringt die Alme einem Ozean.
Wolfgang Kraft erzählt, dass er abends oft an der Alme entlang bachaufwärts wandere. Einer seiner Lieblingsorte sei der Uhu-Felsen, von dem aus er wie ein Greifvogel das Mühlental überblicken könne. »Hier oben schalte ich ab, komme zur Ruhe, denke nochmal über den Tag nach.« Er hat lange bei der Volkshochschule gearbeitet, nahm so oft an naturkundlichen und geschichtlichen Exkursionen teil, bis er selbst zum Quellen-Erzähler und zur sprudelnden Erzählquelle wurde.
Was ist eigentlich ein Seelenort? Was macht ihn besonders? Das ist das Ziel meiner Reise: Ich will herausfinden, was das Verbindende der 43 Orte ist, welche gemeinsamen Qualitäten erkennbar sind. Ich nehme mir vor, jeden einzelnen zu besuchen. Darunter so unterschiedliche wie die Pfarrkirche in Wormbach, den Philippstollen in Brilon, einen Steinbruch in Grevenbrück und die Lausebuche bei Oberelspe. Warum sind sie den Menschen wichtig? Welche geheimnisvolle Zutat beseelt sie?
Eine Antwort zeigt sich schon hier, am Anfang der Erkundung: Die wesentliche Eigenschaft dieser Stätten ist die Stille. Sie sind Oasen für Rast und Ruhe, fern von Alltagshektik und Straßenlärm. Deshalb passen sie so gut zur entschleunigten Form des Wanderns. Und deshalb bieten sie sich auch als Inspiration an. Man kann innehalten, zu sich kommen, sich für den Alltag neu orientieren. Sie lenken nicht ab, sondern können als Inspiration für die eigenen Gedanken und Gefühle dienen. Seelenspiegel.
Das zeigt sich auch an dem nächsten Ort, den ich besuche. Eine Autostunde südlich von Alme liegt die kleine Stadt Hallenberg. Rund 4500 Einwohner, an die östlichen Ausläufer des Rothaargebirges geschmiegt. Im Laufe ihrer wechselhaften Geschichte immer wieder Zankapfel zwischen Fürsten und Bischöfen, heute noch Grenzstadt zu Hessen. Auch hier suche ich einen Geburtsort. Nicht eines Flusses, sondern der Stadt selbst. Ich finde ihn überraschenderweise nicht in der prächtigen Pfarrkirche aus dem 13. Jahrhundert, die das Zentrum von Hallenberg dominiert. Sondern unten, am südöstlichen Ausgang der Stadt, direkt neben der vielbefahrenen Bundesstraße.
Dort steht die viel kleinere Kirche Mariä Himmelfahrt. Die Hallenberger nennen sie nur ›die Unterkirche‹. Als ich eintrete und die niedrige Holztür hinter mir schließe, verstummt auf einen Schlag der Autolärm. Auch die Sonne scheint draußen bleiben zu sollen. DämmerigesLicht umfängt mich. Die Fenster sind winzig. Langsam gewöhnen sich die Augen daran, an den Wänden und im Deckengewölbe werden erdfarbene Fresken sichtbar. Das ist der wesentliche Schmuck der Unterkirche. Ihr ältester Teil wurde vor mehr als 1000 Jahren gebaut. Barocker Prunk fehlt völlig. Mein Blick wird magisch von der Marienstatue hinter dem Altar angezogen. ›Unsere liebe Frau von Merklinghausen‹ hat eine andere Ausstrahlung, als ich von ernst blickenden Madonnen gewohnt bin. Sie lächelt.
Maria trägt einen purpurnen Umhang und ein diamantenbesetztes Kreuz. Das göttliche Kind auf ihrem Arm wirkt ebenfalls still vergnügt. Seit hunderten von Jahren wird die Statue angebetet, hunderte von Wallfahrern lockt ihr Lächeln alljährlich im August an. Heilungen sind überliefert, wenn auch nicht bewiesen. Im Leben der Stadt hat die Kirche ihren festen Platz, bei Stadtführungen ist sie eine der Attraktionen. Meine ortskundige Führerin, Edeltraud Müller, sagt, die Hallenberger seien besonders gebefreudig, wenn zu Spenden für die Unterkirche aufgerufen werde.
Bei einer Begehung, als es darum ging, die spirituellen Qualitäten der Kirche zu erspüren, hatten die Teilnehmenden, so wollte es die Methode, ihren Gedanken freien Lauf gelassen. Einige hatten zur Kirche auch Assoziationen von Schoß und Uterus. Ich frage Frau Müller, ob sie das nicht irritiere – ein geistlicher Ort als Gebärmutter? Sie schmunzelt, überlegt eine Weile. Dann sagt sie: »Es stimmt ja: Das ist ein Geburtsort. Wo die Kirche steht, gab es einst das Dorf Merklinghausen. Das ist wüst gefallen, sprich aufgegeben worden. Von ihm blieb nur die Kirche, und sie wurde zum Ursprung von Hallenberg.« Und so werde ich zum ersten Mal fündig bei meiner Suche nach dem Verbindenden zwischen den Seelenorten. Zwei so unterschiedliche Plätze wie die Almequellen und die Unterkirche haben einiges gemeinsam: Beide markieren einen Anfang. Beide zeigen sie Wege zum Leben.