Diemelsee-Flechtdorf (51.325989 | 8.824948)
Könnten diese Steine sprechen, denke ich, als ich langsam um den weitläufigen Komplex flaniere: Sie hätten viel zu erzählen. Ursprünglich lagen die Kalksteine grob und grau in der Erde. Dann wurden sie fein behauen und als Quader sorgsam aufeinandergesetzt. Zu Mauern, die fast tausend Jahre lang lauschten. Den Liedern frommer Benediktinermönche. Dem Treiben sittenloser Äbte. Den Streitereien von Vögten und Grafen, die um die Besitztümer von Kloster Flechtdorf rangen. Sie hörten die Flüche der Söldner im Dreißigjährigen Krieg, die mordeten und brandschatzten. Sie erbarmten sich des Seufzens der Kranken und Siechen, als das Kloster zum Hospital wurde. Sie rahmten Friedensgebete und Fürbitten. Sie erblühten, als jüngst Menschen kamen, eine Vereinigung gründeten und die hellgrauen Mauern seitdem pflegen und beleben. All das, was sie an Geschichten aufgesaugt haben, tausend Jahre lang, erzählen diese Steine. Dem, der sich Zeit nimmt, einlässt und zuhört.
Hier gibt es wenig Ablenkung. Das schlechte Mobilfunknetz in Flechtdorf mag für die Einheimischen eine Last sein. Für den, der ungestört in die Geschichte eintauchen will, entsteht ein Ruheraum jenseits von Updates und Downloads. Als Flechtdorfer Bürger kennt Helmut Walter dieses Dilemma der Abgeschiedenheit. Seit mehr als zehn Jahren führt er Menschen durch das Kloster. Vor allem engagiert er sich für dessen Erhaltung, zusammen mit seinen Mistreitern im Förderverein. „Die jungen Leute ziehen weg, dorthin, wo es Arbeit gibt und bessere Vernetzung“, erklärt er, „gleichzeitig liegt in der Ruhelage des Dorfes ein Reiz, der Besucher anzieht.“
Das Kloster, das vom 12. bis zum 16. Jahrhundert geistiges und wirtschaftliches Zentrum für ein weites Umland war, drohte in den Nuller Jahren zu verfallen und zu vermüllen. Die Flechtdorfer gründeten 2006 einen Verein, sammelten Geld, stellten Anträge beim Denkmalamt, ließen das Gebäude renovieren. Raum für Raum, immer wenn es neue Mittel gab. Ihr Herzensanliegen, so Helmut Walter, sei nicht nur die Erhaltung eines geschichtlichen Juwels. „Wir wollen ihm neue Lebendigkeit einhauchen.“ Sein Verein organisiert Camps, in denen Jugendliche bei der Sanierung mit anpacken. Der offene Innenhof verwandelt sich sommers in Konzertbühne und Open-Air-Kino. Im ehemaligen Kuhstall treffen sich Dörfler und Besucher zu Kaffee und Kuchen. Frischzellenkuren für den alten Klosterkörper.
Aber nicht alles passt zur Tradition. Es ist ein Balanceakt, Herkunft und Zukunft mit gegenwärtigen Aktivitäten stimmig miteinander zu verbinden. Anspruchsvolle Konzerte und sogar Tango in der Klosterkirche finden Anklang.
Man fand heraus, dass dieser Tanz eine spirituelle Dimension hat. Papst Franziskus hat ihn gern getanzt, als er noch Jorge Flores hieß, auch ein Zitat von Kirchenvater Augustinus ermutigte zu diesem Schritt: „Oh, Mensch, lerne tanzen, sonst wissen die Engel im Himmel mit dir nichts anzufangen.“
So stellt sich für die engagierten Flechtdorfer immer wieder die Frage, wie das geschichtliche Erbe neu belebt werden kann. Oder wie es Thomas Morus ausdrückte: „Tradition ist nicht das Halten der Asche, sondern das Weitergeben der Flamme.“ Im Gewölbe unter dem ehemaligen Tor-Turm treffen sie sich einmal im Monat zu einer Friedensandacht, knüpfen in stillem Beisammensein an mönchisches Leben an. Wie Walter erzählt, lassen sie sich selbst von Winterkälte nicht davon abhalten. „Klingt vielleicht verrückt, aber in der Meditation werde ich von innen her warm.“ Das Vortragen geistlicher Texte, in vielen Klöstern früher wie heute während der Mahlzeiten gepflegt, steht in Flechtdorf als „Lesefrühstück“ auf dem Programm. Brautpaare schätzen das Ambiente des Trauzimmers, um dort, wo Geschichte einen langen Atem bewiesen hat, den Bund fürs Leben zu schließen.
Immer wieder beschäftigen sich die Mitglieder des Klostervereins mit der Historie, entdecken neue Aspekte in der wechselhaften Geschichte, sind berührt von der Fülle ihrer Entdeckungen. So kamen sie auch auf die Geschichte mit dem Bier. In alten Aufzeichnungen wurde beschrieben, wie ein Abt mit eigenen Rezepturen experimentierte. Bier galt nicht als Genussmittel, sondern „als Erquickung der Kranken“. Neben Hopfen und Malz ließ er Kräuter dem Brau-Sud zusetzen: Waldmeister und Wermut, Salbei und Lavendel und andere. Die Flechtdorfer sammelten die entsprechenden Pflanzen und gewannen eine Brauerei, das Experiment zu wiederholen. Das Bier hatte eine ungewöhnliche Farbe: Es war grün. Für sauerländische Trinkgewohnheiten eine Herausforderung. „Aber es schmeckt herrlich erfrischend,“ sagt Walter mit einem Schmunzeln. Außerdem liege selbstgebrautes Bier im Trend. Craft Beer. Er hätte nichts dagegen, wenn das Kloster auch auf diese Weise wieder hip wird.
Autor: Michael Gleich
Das Kloster – Orte der Stille – Einkehr
an Ufern der Teiche, auf moosbegrünten Steinen
unter Wölbungen im lichten Kirchenschiff
Mauern, die stumm Geschichte schreien
Aufbau – Zerstörung, Ohnmacht und Macht,
Freude und Tränen, Krankheit – Tod oder Heilung
Zwei Türme die Wächter,
Bewahrer verflossener Jahrhunderte,
Schützer belebten Gegenwart, beglückt im Frieden
Herberge für Zukunft?
© Marlies Strübbe Tewes
Michael Gleich
Start: Wanderparkplatz Giershagener Str., Flechtdorf
Folgen Sie dem Wanderweg F1 wechselnd zwischen Wiesen, kleineren Waldflächen, Bergen und vorbei an Fischteichen durch abwechslungsreiche Kulturlandschaft.
Weitere Infos erhalten Sie über die Tourist-Information Diemelsee: Tel: 05633-91133, E-Mail: info@diemelsee.de