Schmallenberg-Grafschaft (51.152819 | 8.326082)
Land der tausend Berge, ja, aber wo hört der eine Berg auf und fängt der andere an? Meist bietet sich dem Wanderer ja dieses Bild: Vom Kamm läuft die Horizontlinie zur Höhe hinauf und auf der anderen Seite herunter, um gleich wieder zum nächsten Gipfel anzusteigen. Die Kuppen sind wie Perlen aufgereiht an einer Schnur. Nur einer ragt heraus. Ich nähere mich ihm auf einem Wanderweg von Westen. Imposant erscheint er nicht wegen seiner Höhe, 658 Meter, sondern weil er allein steht. Als Kegel mit abgeflachter Spitze baut sich der Wilzenberg vor mir auf. Ohne dass er sich an einen anderen Bergrücken anlehnt. Er steht für sich selbst. Das flößt Respekt ein.
Viele Wege führen um den Berg herum und hinauf. Ich gehe nach Westen und finde dort einen Pfad, der steil nach oben führt. Es kommt mir vor, als klettere ich einen alpinen Steig hoch, schwitzend, mit immer neuen Ausblicken weit ins Land, wenn ich mich umdrehe. Auf einer Terrasse im Hang entdecke ich einen Tümpel, gefüllt von einer sacht plätschernden Quelle. Brauers Deyk wird er genannt. Der Bruder-Teich ermöglichte Einsiedlern, oben auf dem Berg auszuharren, sommers wie winters. Sie gewährten Pilgern Unterkunft und lebten von deren Gaben. Gottesfürchtig sei der letzte Klausner gewesen, das ist schriftlich überliefert, mit gewaltigem Bart. Alleinsein mit dem Höchsten. Bis irgendwann um 1850 hat er auf Bergeshöhe gelebt und gebetet, der Dorfgemeinschaft entsagend, dem Himmel nah.
Weiter, zwischen lichten Buchen hindurch, weiter nach oben. Dann flacht der Pfad fast schlagartig ab, und ich gehe auf zwei Kapellen zu. Uralter Verehrungsplatz: Schon 1543 wurde eine Kapelle auf dem Wilzenberg erwähnt, die jetzige Marienkapelle wurde 1633 errichtet. Was mich jedoch magisch anzieht, ist die Gruppe von drei Holzkreuzen, die ich zwischen den Gebäuden erblicke. Schon immer hat mich diese intensive Szene berührt: Jesus in der Mitte, links und rechts die beiden Räuber, die mit ihm gekreuzigt wurden. In seinem verzweifelten Ausruf, „Mein Gott, warum hast du mich verlassen?“ ist der Heiland ganz allein. Und dennoch sieht er auch die Leidensgenossen, findet gute Worte für sie, „ich sage dir, heute noch wirst du mit mir im Paradies sein.“ Größter Schmerz und paradiesische Erlösung, verschmolzen zu einem einzigen Moment.
So erscheint das Hochkreuz, ein paar Meter weiter und noch höher gelegen, als ein Hoffnungszeichen. 28 Meter ragt es in den Himmel. Fünf Tonnen Stahl, vier Halteseile: Das wird nicht für die Ewigkeit reichen, aber zumindest länger als die Holzkonstruktionen halten, die seit dem 17. Jahrhundert immer wieder hochgezogen wurde und immer wieder morsch fielen. Weithin sichtbar, auch durch die Alleinstellung des Wilzenberges, lockt das Kreuz Wanderer und Pilger gleichermaßen an.
Auf einer Bank vor der Kreuzigungsgruppe sitzend, allein mit meinen Gedanken, andächtig im besten Sinne, fühle ich mich für eine Weile selbst wie ein Einsiedler. „Heiliger Berg“ nennen sie ihn im Sauerland. Im Moment der Stille, mit Abstand zum Alltag, der irgendwo am Fuße des Berges zurückgelassen wurde, kann ich nachvollziehen, warum. Schon in vorchristlicher Zeit, als eine Wallburg den Menschen rings umher Zuflucht gewährte,könnten hier Opfergaben dargebracht worden sein.Das liegt nah. Viele Mythologien und Religionen verehren Berge als Sitz der Götter, vom Kailash in Tibet über den griechischen Olymp bis zum Uluru, dem roten Berg der Aborigines. Vielleicht steckt das, wie man sagt, „noch in uns drin“. Vielleicht ist das der Grund, warum wir Menschen unbedingt jede erreichbare Anhöhe erklimmen wollen: um den höheren Mächten nahe zu kommen.
Allein sein auf dem Wilzenberg ist die eine Möglichkeit, ihn fürs Seelenheil zu nutzen. Gemeinsam mit anderen hoch zu pilgern ist die andere. Hans Robert Schrewe, als Kirchenvorstand mit weiteren Ehrenamtlichen aus Grafschaft eng mit den Kapellen und Kreuzen auf dem Wilzenberg verbunden, nennt beeindruckende Zahlen: Im Jahr 2018 gab es 26 Gottesdienste, etwa 3000 Pilger wurden gezählt, darunter allein 600 Schützen, die sich alle drei Jahre zur Wallfahrt einfinden. Groß und Klein verbinden seit je her mit der Wallfahrt zum Fest „Maria Heimsuchung“ den Duft von Kaffee und den Geschmack von süßen Berlinern zu den Klängen der Musikkapelle. Nach der Seelennahrung was zum Naschen.
Schrewe ist vielfach fasziniert von dem Berg, seiner reichen Geschichte und seinem Charisma, seiner offensichtlichen Schönheit und davon, wie er Geheimnisse für sich behält. (Hat dort droben eine Edelfrau Chuniza gelebt, die sieben Ehemänner vergiftete, bevor sie schwere Buße tat?) Deshalb engagiert er sich auch in der Kirchengemeinde für die Pflege des Wallfahrtsortes. Und die kostet viel Zeit und Geld. „Man kann sagen: Der Wilzenberg ist uns lieb und teuer.“
Was ihn besonders freut, sind die vielen jungen Menschen, die er oben antrifft. Am meisten berühre ihn aber, „wenn ich beobachte, wie auch die, die zuerst noch aufgedreht und laut daher kommen, langsam still werden, wenn sie in sich gehen“. Offenbar erleben sie etwas, was unser Verstand nicht versteht: dass man gleichzeitig mit anderen zusammen UND ganz mit sich sein kann. Schließlich das Erklimmen des Aussichtsturmes, den Blick weiten für die Schönheit der Natur um uns herum – eine andere Bergerfahrung.
Autor: Michael Gleich
Michael Gleich
Start Holz- und Touristikzentrum Schmallenberg, Poststraße 7
Eine spirituelle Wanderung vom Schmallenberger Stadtzentrum mit tollen Aussichten über den Wilzenberg bis nach Grafschaft. Von dort führt Sie die Tour über den Wiesenweg zurück nach Schmallenberg.
Weitere Infos erhalten Sie über den Schmallenberger Sauerland Tourismus: Tel: 02972/974-0, E-Mail: info@schmallenberger-sauerland.de
Dass in jedem Jahr sehr viele Gottesdienste auf dem Wilzenberg stattfinden, allein 2018 mit mehr als 3000 Pilgern, darunter 600 Schützen, die sich alle drei Jahre zur Wallfahrt einfinden.