Die waldreichsten Gemeinden Westfalens bilden die Eckpfeiler der Sauerland-Wanderdörfer: Brilon im Norden und Kirchhundem im Süden – wo die Nadelgehölze für ganzjähriges Waldesgrün sorgen. Der Wald ist im Wandel und nicht trotzdem sondern gerade deshalb ein Garant der Stimulation für alle Sinne.
Stille? Wer die Dauerbeschallung einer Stadt gewohnt ist, wird sie in fast jedem Sauerländer Wald für sich entdecken. Doch wer genauer hinhört stellt fest: Das vollständige Fehlen menschengemachter Geräusche ist auch hier nicht mehr die Regel. Eine der wenigen Ausnahmen ist das Schwarzbachtal, Kirchhundems einziger Teil südlich des Rothaarkamms. Es ist eines der wenigen Täler ganz ohne Menschengeräusche.
„Wer den Moment hier erlebt, den wir gerade erleben, der weiß, was gemeint ist, wenn man von einem Seelenort spricht,“ schwärmt Ranger Ralf Schmidt. Er steht an seinem Lieblingsplatz in der Natur: auf der Rothaarsteigbrücke über dem Schwarzbach im Schwarzbachtal zwischen Röspe und dem Rhein-Weser-Turm. Es ist nicht nur ein außergewöhnlicher Platz am Rothaarsteig, schließlich ist es einer der ganz wenigen Abschnitte, auf dem der Höhen-Weitwanderweg von Brilon bis ins hessische Dillenburg ausnahmsweise mal nicht dem Kamm folgt, sondern ein Tal durchquert. Die Macher des Rothaarsteigs hielten das zu Recht für gerechtfertigt, weil dieses Tal so außergewöhnlich ist. Und Jahre später wurde eben dieses Tal dann auch noch zu einem der gut vierzig Sauerland-Seelenorte gewählt – Orte von besonderer Kraft, Stille, Schönheit und vielleicht auch Spiritualität. Die Seelenorte haben eine wichtige Eigenschaft: Zu jeder Jahreszeit lösen sie bei den Menschen etwas aus – der Berliner Journalist Michael Gleich, der alle Seelenorte besucht hat, spricht von Resonanz. Sich Seelenorte auszusuchen als Ziele für winterliche Naturerlebnisse, ist also sicherlich nicht die schlechteste Idee.
Die kleineren unter Ranger Ralfs Zuhörern sind allerdings noch nicht vollständig überzeugt. Es ist wirklich früh am Morgen und wirklich kalt; die Natur scheint mit weißem Samt überzogen. Auch die Sonne ist noch nicht richtig wach. Sie steckt noch hinter den Bäumen im Südosten und kommt nur ganz langsam höher. In den Gesichtern steht eine Frage: „Warum müssen wir so früh in solcher Kälte draußen sein?“ Und dann gibt die Sonne die Antwort: Erst ein kurzes Aufglühen eines Baumwipfels, dann ist sie innerhalb von Sekunden da und flutet das Tal mit Gold. Der Reif auf allen Bäumen, Büschen und trockenen Gräsern des letzten Sommers erstrahlt in gold-orange. Kleine Nebelschwaden explodieren, leuchten auf und vergehen in der Morgensonne. Vogelstimmen würden zu der Szene passen, aber die gefiederten Sänger halten zu dieser Jahreszeit lieber den Schnabel. Dafür duftet es nach Frost und Frische – eine aparte Mischung.
Die Sinne gehen auf und nun hat Ranger Ralf die volle Aufmerksamkeit aller Zuhörer. Er erzählt davon, wer jetzt wo schläft und was trotz des Winters gerade alles in der Natur passiert. Er führt uns zu einem Teich mit einer zarten Eiskruste und Leben darunter. In einem Fichtenwald erzählt er uns, wie groß ein Pilz ist. Das, was im Herbst aus dem Nadelboden schaut, sind nur die Fruchtstände. Wie groß das eigentliche Lebewesen versteckt im Waldboden werden kann, weiß niemand so genau. Vielleicht sind Pilze die größten Organismen der Erde. Ein Hallimasch in Oregon soll 1.200 Fußballfelder groß, 8.500 Jahre alt und 400 Tonnen schwer sein. Das Leben kann gewaltig sein.
Zum Winterlicht gehört aber nicht nur das Licht in der Natur. Jeden Morgen und jeden Abend gibt es überall – in der Natur ebenso wie in den Dörfern und sogar in den Städten – die „blaue Stunde“. Sie ist vielleicht nicht unbedingt 60 Minuten lang, aber sie ist auf jeden Fall sehr blau und das vollkommen unabhängig vom Wetter. In der Dämmerung gibt es überall auf der Welt zwei Mal am Tag eine Phase mit königsblauem Licht. Je weiter man im Norden ist, desto länger dauert diese Phase. In Deutschland sind es 20 bis 30 Minuten. Reizvoll wird die blaue Phase der Dämmerung vor allem dann, wenn warmes Kunstlicht in gelb und orange dazu kommt.
Wir erleben diesen Moment vor dem Schrabben Hof in Silberg. Ulrike Wesely – freischaffende Musikerin und Theaterpädagogin – begrüßt uns auf dem großen Hof im Ortskern des alten Bergwerksdorfes. Sie ist Geschäftsführerin des Kulturguts Schrabben Hof und gleichzeitig die Künstlerische Leitung des Vereins MuT-Sauerland e.V. MuT steht für Musik und Theater, aber es gehört auch jener mit kleinem t am Ende dazu, ein solches Projekt in einem Dorf ins Leben zu rufen, das zu klein für einen eigenen Gasthof ist. Seit 2012 organisiert sie gemeinsam mit ihrem Team das Theater- und Kulturprogramm im Schrabben Hof. Ein Heimatmuseum ist der Hof ganz nebenbei auch noch – voller liebevoller Erinnerungen an alte Zeiten, voller Atmosphäre und natürlich zur Freude des Fotografen auch voller stimmungsvollem Licht.
Wer eine Kamera trägt, wird sich nur schwer lösen vom Licht im Veranstaltungssaal unter dem Dach, wobei die betörenden Düfte aus dem Erdgeschoss dem Licht heftig Konkurrenz machen. Dort entstehen gerade Waffeln nach dem speziellen Schrabben-Hof-Rezept. Auch wenn es keinen Gasthof in Silberg gibt, kann man doch einkehren. Das Kulturgut sorgt auch für das leibliche Wohl. Nicht nur die Jüngeren in der Gruppe sind hochbegeistert von der kulinarischen Abrundung des Tages.
Klaus-Peter Kappest
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