Gemeinsam wandern wir über jenen schmalen Weg, dessen Verlauf er damals auf allen Vieren festlegte. Knippertz ist Ranger, angestellt beim Landesbetrieb Wald und Holz. Er und seine Kollegen sahen nach dem Sturm eine einmalige Chance: »Wir wollten zeigen, was passiert, wenn so eine Fläche sich selbst überlassen wird. Was wächst dort, wenn der Mensch sich raushält?« Sie konnten das staatliche Forstamt überzeugen, für 3,5 Hektar auf den Holzertrag zu verzichten, immerhin einige zehntausend Euro. »Bei Privatbesitzern wäre das nicht möglich gewesen.
«Auf exakt einem Kilometer windet sich der Pfad. Kriechen muss heute niemand mehr, die Besucher können durch Schneisen, über Stege und kleine Brücken wie durch ein Naturkundemuseum flanieren. Knippertz erklärt mir, in welchen Wellen die Sturmfläche wiederbesiedelt wurde. Die ersten, die sich trauen, sind Blumen wie Fingerhut und Waldweidenröschen. Dicht gefolgt von Büschen wie Holunder und Brombeere. Letztere ist besonders aggressiv, die macht andere platt. Das Ganze ist ein Kampf um Licht und Wasser. Dann folgen die Pioniere unter den Bäumen – Eschen, Birken, Weiden, natürlich auch Fichten. Ein Wettwachsen um die besten Plätze an der Sonne setzt ein. Wer schneller nach oben schießt, stellt andere in den Schatten. Birken und Fichten machen zunächst das Rennen. Aber jetzt, nach elf Jahren ohne Axt und Säge, hat sich ein Gleichgewicht eingependelt. Knippertz’ Augen leuchten, wenn er, von einem Hochstand aus, über den neuen Wald blickt: »Ist das nicht ein Wunder, wie reich an Pflanzen und Tierarten er ist?« Kyrill hat für kreatives Chaos gesorgt.
Und, sind die Forstbesitzer aus dem Sturmschaden klug geworden? Knippertz schüttelt den Kopf. Dann antwortet er: »Wahrscheinlich nicht alle, da müssen wir noch ein wenig Überzeugungsarbeit leisten! Wir haben geraten, mit standortgerechten Baumarten wie der Buche aufzuforsten. Dafür gab es sogar Fördergelder. Aber viele haben sich für schnelles Wachstum entschieden. Also doch wieder Fichten – mit hohem Risiko.« Der nächste Orkan kommt bestimmt.
Während wir weitergehen, frage ich mich, was den Kyrill-Pfad zu einem Seelenort macht. Mich inspiriert er, über das Thema Tod und Neubeginn nachzudenken. Über die eigene Vergänglichkeit. Über die Tatsache, wie kurz die menschliche Lebensspanne im Vergleich zum langen Atem der Natur ist. Darüber, dass manches, was auf den ersten Blick wie Ende und Aus wirkt, in Wirklichkeit Wandlung ist, ein Übergang, ein Augenzwinkern in der Ewigkeit. Knippertz zeigt auf einen Stamm zu unseren Füßen. »Noch fünf Jahre, und der ist komplett verrottet. Im Inneren sind Baumpilze am Werk, ihn zu zersetzen.« Er zeigt auf einen tellergroßen Pilz außen am Holz: »Das ist nur der sichtbare Fruchtkörper eines gigantischen Geflechts im Inneren.« Moose und Pilze, Sonne und Regen sind die nimmermüden Transformatoren. Sie verwandeln Bäume in Erde und Erde in Nährboden für künftige Bäume.
Am Ende des Pfades führt der Ranger mich zu seinem persönlichen Highlight in der Freiland-Galerie. Er zeigt auf eine Fichte, die am Boden liegt. An der Oberseite ist die Rinde aufgeplatzt, »Sonnenbrand«, erklärt er. Aber die Krone des Baumes besteht aus dunkelgrünen und dicht benadelten Zweigen, an den Spitzen sprießt und knospt es hellgrün. »Der will noch was«, sagt Stefan Knippertz, »dieser Baum hier will unbedingt leben. Und der wird das auch mit Sicherheit schaffen.«
ENDE