Marsberg-Helminghausen (51.377974 | 8.72799)
Mein Vater war Maurer. Er beherrschte eine Technik, auf die er sehr stolz war: Er konnte Bruchsteine mauern. Die Schwierigkeit liegt darin, dass jeder Stein anders ist. Für jeden muss der richtige Platz gefunden werden, mit den richtigen Nachbarn. Egal wie krumm und kantig die Steine sind, die Wand muss nicht nur stabil, sondern soll auch glatt werden. Das kriegen nicht viele hin. Deshalb hätte er vermutlich gerne an der Staumauer des Diemelsees mitgearbeitet, wäre das zu seiner Zeit gewesen. Die Steine für die Staumauer, kaum verwitternder Diabas, wurden unweit der Baustelle gebrochen. Man rief 90 Bruchsteinmaurer aus Italien und Serbien, 1912 begann der Bau, kriegsbedingt und wegen Geldmangels wurde er erst 1924 fertiggestellt.
Seitdem steht die „gekrümmte Schwergewichtsmauer“, 42 Meter hoch, oben an der Krone knapp 200 Meter lang. Dunkelgrau ist der Diabas mit den Jahren geworden, hellgrau immer noch die Fugen. Nicht nur stabil, sondern auch glatt geworden ist das Mauerwerk. Ich stehe am Fuße der Mauer, lege den Kopf in den Nacken, um die gesamte Höhe bis in den Himmel zu erfassen, und denke nur ein Wort: Kraft. Das Gewicht der Steine vor mir kann ich förmlich spüren, das Gewicht von 20 Millionen Kubikmeter Wasser dahinter nur erahnen. Ein ungewöhnlicher Kraftort, der mich zu Assoziationen wie dieser inspiriert: Der Stausee betreibt eigentlich asiatische Kampfkunst. Er baut Kraft auf, lenkt sie und konzentriert sie auf einen Punkt, etwa die Turbinen, um möglichst durchschlagende Wirkung zu entfalten. Aqua-Karate, sozusagen.
Die Mauer symbolisiert beides, Schutz und Gefahr. Je stärker der Mensch in den Kraftfluss des Wassers eingreift, je höher der Druck wird, desto größer müssen die Sorgfalt beim Bau der Staumauer, die Zuverlässigkeit der Materialien und die Kunst der Ingenieure sein. Nicht mehr als fünf Zentimeter darf sich die Mauer vorwölben, gemessen mit hochpräzisen Lasern, sonst würde Alarm geschlagen.
Im Zweiten Weltkrieg versuchten alliierte Bomberverbände, den Staudamm zu zerstören. Doch der Anflug durchs Diemeltal war schwierig, die Talsperre blieb unversehrt. Auch das apokalyptische Vorhaben der Waffen-SS, die den Damm in den letzten Kriegstagen sprengen wollte, um den herannahenden Siegern nicht nur verbrannte Erde, sondern auch überschwemmte Täler zu hinterlassen, scheiterte in letzter Minute. Wasser als Waffe: Glückliche Umstände verhinderten ihren Einsatz.
Ihnen verdanke ich, dass ich am Fuß dieser künstlichen Felswand sitzen und über Kraftflüsse meditieren darf; über die Verwandlung von einer Energie in die andere, von Wasserkraft in Strom; über die Macht des Menschen, Naturgewalten zu bändigen, und seine Ohnmacht, wenn das mal wieder schiefläuft; und schließlich darüber, dass ich meinem Vater, dem Bruchsteinmaurer, mal zu Lebzeiten hätte sagen sollen, wie stolz ich auf ihn bin.
Autor: Michael Gleich
Michael Gleich
Start: Wanderparkplatz Heringhausen-Strandbad
Start Tourist-Information Diemelsee, über die Seebrücke, rechts beim Campingpark Hohes Rad vorbei, weiter geradeaus (4 km) bis zur Kreisstraße Helminghausen, rechts Richtung Staumauer.
Weitere Infos erhalten Sie über die Tourist-Information Diemelsee: Tel: 05633-91133, E-Mail: info@diemelsee.de