Winterberg-Neuastenberg (51.166193 | 8.480668)
Heute mal ins Wald-und-Wiesen-Kino. Am Gerkenstein oberhalb von Neuastenberg steht eine Art Bilderrahmen, groß wie ein Garagentor, ein Karree aus massiven Holzbalken. Davor bergseitig drei gemütliche Waldsofas. Statt Popcorn gibt es mitgebrachte Stullen aus dem Rucksack. Ich ziehe die Wanderschuhe aus, lasse die Füße an die frische Luft, lehne mich zurück und frage mich, was das wohl für ein Film ist, der heute gezeigt wird. Erstmal nur dieses Standbild: Sanft abfallende Wiesen, ordentliche Zäune, ein Mosaik aus Fichtenschonungen und Laubwäldchen, geschwungene Höhenlinien, deren Farbstriche von dunkelgrün in der Nähe zu blauen Pastellfarben in der Ferne changieren.
Ganz nett, denke ich, aber jetzt könnte mal langsam der Hauptfilm beginnen. Im Publikum, heute nur aus mir bestehend, macht sich leise Ungeduld bemerkbar. Doch da, Bewegung in der Szenerie. Auftritt von links: Eine Frau führt ein Pferd am Zügel. Sie gehen an einem der Weidezäune entlang, gemächlichen Schrittes die Zweibeinerin, behutsam Huf vor Huf setzend der Vierbeiner. Ähnelt er nicht ein wenig Winnetous schwarzem Hengst Iltschi? Ist sie, in Reithosen und hohen Stiefeln, die Pferdeflüsterin? Die beiden streben auf einen Unterstand zu, das Pferd wird angebunden, die Frau beginnt, mit einer Bürste das Fell zu striegeln. Lange, behutsame und doch kraftvolle Bewegungen. In Ermangelung von Ablenkungen schaue ich einfach, schaue und entspanne, schaue und lasse alles los, was ich an diesen Ort an Gedankendichte im Kopf mitgebracht hatte, bis die Fellpflege beendet ist, die Frau einen hellbraunen Sattel festzurrt und aufsteigt. Ruhiger Abgang nach links aus dem Bild.
Das muss der Vorfilm gewesen sein, denke ich, merkwürdigerweise gar nicht mehr ungeduldig. Meine Blicke wandern jetzt langsamer durchs Bild. Sie nehmen wahr, wie sich das frischgrüne, junge Gras auf der Wiese im Vordergrund seinen Platz gegen die hellbraunen Stängel vom Vorjahr erkämpft. Das Ganze in Zeitlupe, wie sonst? Zwei Pappeln, Solitäre auf weiter Flur, Nachbarn seit vielen Jahren, scheinen flüsternd miteinander zu palavern. Der Frühlingswind tritt auf, ein leises Säuseln anstimmend, Hintergrundmusik für ein Motorsägen-Solo, natürlich in Dolby-Surround-Qualität. Mir fällt eine satirische Fotomontage ein, die ich vor kurzem sah: Ein Mann geht durch einen Wald, auf dem Kopf trägt er eine dieser Künstliche-Realität-Brillen, die aussehen wie klobige, schwarze Ski-Brillen; in diesem Fall fehlen jedoch die Vorderseite und das komplette Innenleben. Mit anderen Worten: Der Mann trägt nur ein leeres Gehäuse und sieht die Bäume, Sträucher und Gräser in höchster Bildqualität und sogar 3-D – mit den EIGENEN AUGEN. Hier und jetzt. Kein Medium nötig, nur direktes Gewahren.
Langsam dämmert mir, was das Besondere an dem Kino ist, in dem ich sitze. Das hölzerne Geviert vor mir rahmt eine Leinwand, auf die ich meine eigenen inneren Bilder projizieren kann. Eine Landschaft als Projektionsfläche für einen Film, dessen Regisseur und einziger Zuschauer ich bin. Sie eignet sich hervorragend dafür, weil sie eben nicht spektakulär und actionreich ist. Sondern weit, offen, licht, in dezenten Farbkompositionen und begleitet von einem zurückhaltenden Soundtrack. Eine filmische Meditation für Augen und Ohren. Mir wird klar, wie oft meine Aufmerksamkeit völlig von äußerem Geschehen gefesselt ist, möglichst ereignisreich, und ich mich von der Wahrnehmung von Gedanken und Gefühlen im eigenen Inneren ablenke. Aber stimmt es wirklich, dass die Außenwelt so viel attraktiver ist als mein Innenleben? Weiche ich nicht manchmal Empfindungen von Leere und Einsamkeit aus, indem ich mich auf die kleinen und großen Dramen des Alltags stürze? Tut mir nicht Verlangsamung gut, um zu erkennen, dass einige meiner inneren Filme schon in der tausendsten Wiederholung laufen? Insbesondere die mit den Sorgen-Drehbüchern und Angst-Plots?
Abschalten hilft. Ich weiß nicht mehr, wie lange ich am Gerkenstein gesessen habe. Die Zeit hatte sich gedehnt bis weit hinter den Horizont. Als ich meine Wanderstiefel wieder anzog, den Rucksack aufsetzte und langsam das kurze Wegstück zurück zum Rothaarsteig ging, dachte ich nur: „Großes Seelenkino!“
Autor: Michael Gleich
Michael Gleich
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