Achtsamkeit und Brüche (51.255445 | 8.559937)
Mir ist, als betrete ich eine Skulpturen-Ausstellung. Ein dicker grüner Teppich erstreckt sich vor mir, unterbrochen von einem Pfad, der von Exponat zu Exponat führt, eines ungewöhnlicher als das andere. Hier eine stolze Pyramide. Dort ein Vogel Strauß. Eine Hofdame mit hochtoupiertem Haar gesellt sich zu einem tanzenden Skelett. Doch diese Skulpturen hat kein Künstler aus dem Holz geschält, sie sind einfach so gewachsen. Zerzauste Kiefern, vom Wind gebeugte Wacholder, allesamt Solitärbäume, dem Wanderer präsentiert auf einem im Sommer grün, im Spätherbst lila ausgelegten Teppich von Heidekraut. Sie gehören zu einer Galerie der Natur auf hohem Niveau: Auf 800 Meter über dem Meer liegt die Hochheide bei Niedersfeld. Von den europäischen Bergheiden, ein seltener Landschaftstyp, ist sie mit einer Fläche von 74 Hektar eine der größten.
Bis zum Mittelalter waren Bergkuppen wie diese von dichten Mischwäldern überzogen. Für die Köhlerei, die Herstellung von Holzkohle, wurden im Sauerland große Waldflächen gerodet. Den hohen Bäumen folgten Zwergsträucher, vor allem Heidekraut. In unserer Zeit begannen die Bäume, ihr ursprüngliches Areal zurück zu erobern. Doch die Menschen befanden, dass sie Heide schöner finden und nannten das Naturschutz. Die letzten mächtigen Stämme wurden gefällt, damit sie keinen Nachwuchs ausstreuen können. Anfliegende Keimlinge werden seitdem entfernt, einmal im Jahr zieht eine kleine Herde von Heidschnucken übers Plateau und hält den Bewuchs niedrig.
Ist das Natur? Ist das Kultur? Ist das göttliche Kunst? Jedenfalls liefert das so gepflegte Hochplateau die ideale Kulisse für den 2015 eingeweihten Goldenen Pfad. Sein Gestalter, der Psychologe Reinhard Schober, schickt die Wanderer durch ›Atmosphäre-Bäder‹. An zehn Stationen werde ich eingeladen, mit allen Sinnen die Umgebung wahrzunehmen. Dem Konzert der Natur lauschen an einer Notenschlüssel-Skulptur, auf dem ›Landschaftsbalkon‹ die Augen auf unendlich zu fokussieren, an einer Tafel über einen Satz von Franz Kafka nachsinnen: ›Es gibt ein Ziel, aber keinen Weg. Was wir Weg nennen, ist Zögern.‹ Wenn ich immer wieder innehalte, mich auf die Übungen einlasse, wird das Gehen zur Lehrstunde in Sachen ›die Seele flanieren lassen‹.
Fünf Kilometer lang führt mich der Pfad in weiten Bögen über den Heideteppich. Seine höchste Erhebung ist auch mein persönlicher Höhepunkt, der 837 Meter hohe Clemensberg. Auf dem Gipfel, wie es sich gehört, mit Kreuz und Gipfelbuch. Ich stehe auf einem Vulkan, einem erloschenen, der in seinem Inneren aus hartem Diabas-Gestein besteht. Von hier oben zeigt sich eine Landschaft, die bäuerlich-lieblich und gleichzeitig auch voller Brüche ist. Wiesen, Äcker, Waldstücke und Hecken umrahmen kleine Dörfer und Weiler. Doch gleich unterhalb des Clemensberges gräbt sich ein Diabas-Steinbruch in die Erde, ich blicke auf glatte, tiefe Schnitte und blank liegenden Fels. Eine Wunde in der grünen Haut. Ich weiß nicht, ob den Pfaderfindern die Wirkung dieses Gipfelblicks bewusst war. In mir bringt er viele Gedanken in Gang: über Brüche und Widersprüche, nicht nur in der Landschaft, sondern auch in meinem eigenen Leben. Über Wunden, die noch offen, und welche, die schon geheilt sind. Und über die wunderbare Fähigkeit des Menschen, Gegensätze in sich zu vereinen und daraus etwas gänzlich Neues zu kreieren. Etwas kommt in mir zusammen, nach den Wechselbädern des Goldenen Pfads. Es fühlt sich rund und freudig an.
Autor: Michael Gleich
Sonne beglückt den Weg,
taucht Heide, Gräser, Sträucher
in goldenes Abendlicht.
Baumskulpturen, windgewachsen,
zeigen Konturen.
Deine Gedanken fliegen fort,
innehalten – nur Da-Sein – atmen.
Warme, würzig feine Luft,
sacht streicht Wind über dein Gesicht,
leises, letztes Insektensurren
von Ferne Vogelgezwitscher
Gold für deine Seele
©Marlies Strübbe-Tewes
Michael Gleich
Start vom Wanderparkplatz Hochheide an der Hochheidehütte in Winterberg-Niedersfeld: Folgen Sie der Ausschilderung zur Hochheidehütte, auch weiter über die geschotterte Piste, bis ganz nach oben zum Parkplatz. Vom Parkplatz aus führt der Weg geradeaus ca. 200m bis zum Einstimmungsplatz des goldenen Pfads. Bitten folgen Sie ab dort einfach der Ausschilderung.
Weitere Infos erhalten Sie über die Tourist-Information Winterberg: Tel: 02981/92500, E-Mail: info@winterberg.de