Kirchhundem-Silberg (51.027320 | 8.025985)
Normalerweise legt Ulrike Wesely doppeltes Sprechtempo vor. Als Kulturmanagerin muss sie viel organisieren und Menschen von Projekten überzeugen, deshalb der Zungengalopp. Doch bei einer Versammlung, in der es um Benennung möglicher Seelenorte ging, warb sie für den Steinbruch bei Silberg, indem sie genau das Gegenteil machte. Sie sprach ganz langsam, sagte nur wenige Sätze, dazwischen lange Pausen. Das muss sich ungefähr so angehört haben: „Versteckt im Wald… Geheimnisvoll mit engem Eingang… Es herrscht eine große Stille… Frühling, Sommer, Herbst und Winter – der Ort verwandelt jedes Mal sein Gesicht… Leiser werden die Menschen dort, ganz leise… Langsamer werden sie auch… Sie hören, wie die Natur zu ihnen spricht…“ Keiner der Anwesenden hatte vorher von dem geheimnisvollen Steinbruch gehört. Doch die Performance war so eindrücklich und der Ort so präsent geworden, dass die Entscheidung einhellig ausfiel: Er wurde ausgewählt.
Heute Morgen drosselt Ulrike Wesely erneut die Geschwindigkeit, um mir Gelegenheit zum Mitschreiben zu geben. Sie will mich nacherleben lassen, wie sie im letzten Jahr den Steinbruch unter dem Titel „Verwunschen“ inszeniert hat. Wir laufen bergauf aus dem Ort hinaus, lassen die gebaute Welt hinter uns und betreten die Welt des Waldes. Wesely zeigt an einer Weggabelung auf einen Baumstumpf: „Sehen Sie die Frau mit dem grünen Umhang… Das ist die Geschichtenerzählerin… Ein Märchen aus alter Zeit…“ So plastisch-fantastisch ist ihre Beschreibung, dass die Frau tatsächlich für mich erscheint.
Ein wenig später deutet sie auf eine Lichtung abseits des Weges. Eine großgewachsene Dame mit blondem Wallehaar und langem blauen Kleid tritt zwischen den Bäumen hervor und spielt Violine. Der weiche Waldboden wird zur Bühne. Die klassischen Melodien wirken exotisch, wie sie jetzt zwischen harzigen Stämmen ihren Weg zu unseren Ohren suchen, entfleucht dem Smoking-und-Abendkleid-Ambiente steifer Konzertabende, sich einfädelnd in die Sinfonie von Singvögeln, quietschenden Ästen und Buschtrommeln. Das alles kann ich hören, als geschehe es gerade jetzt.
Am Eingang zum Steinbruch steht die Wächterin. Schwarzer Umhang, ernstes Gesicht. Die Gespräche der Eintretenden verstummen. An manchen Stellen des Talkessels sind die felsigen Wände steil und abweisend. An anderen sanft ansteigend, wie eine Einladung, sich in die Höhe zu wagen und sie zu erforschen. In der Mitte ein Weiher mit dunkelbraunem Wasser. Seine Oberfläche ist mit welken Blättern vom Vorjahr bestreut, seine Tiefe undefinierbar. Formt er ein Herz? Oder einen Halbmond? Eines jeden Fantasie entscheidet selber.
Verstreut hinter jungen Tannen und toten Stämmen stehen Musiker. Glocken, Zimbeln und Klangschalen werden angeschlagen, sie weben einen Teppich aus Tönen, der durch den Steinbruch zu schweben scheint. Die Erzählerin tritt noch einmal auf. Und dann die Hauptperson des Tages: die Stille.
Aus dem Verwunschenen zurück ins Jetzt. Ich stehe mit Ulrike Wesely am schwarzen Weiher, und nachdem sie mir die Inszenierung so anschaulich und wohltönend geschildert hat, fallen wir in wortlosem Einverständnis ins Schweigen. Ich schaue mich noch einmal mit frischem Blick um. Dunkles Wasser, helles Blattgrün an den Zweigen, bemooste Steinblöcke, knorrige Baumstrünke, die mir runzlige Fratzen zu schneiden scheinen. Und dann die Frage: Braucht ein solcher Ort überhaupt eine Inszenierung? Reicht es nicht, zu schauen, zu lauschen und ein wenig die Seele baumeln zu lassen, und jeder erschafft sein eigenes Szenario? Burg für Hollen und Zwerge. Hochseilgarten der tanzenden Feen. Rückzugsort für seltene, von Menschen noch nie gesichtete Tierarten. Schauplatz des letzten Gefechts zwischen Indianern und weißen Siedlern. Opernhaus für stumme Konzerte für Osterglocken und Waldmeister.
Gleichzeitig bewundere ich, wie Wesely mit wenigen, behutsamen Eingriffen das poetische Potenzial dieses Ortes herauslockt und verstärkt. Sie setzt Akzente, verwandelt den Steinbruch in Konzertsaal, Erzählstube und Waldkino. Und wenn alle nach Hause gehen, bleiben keine Spuren zurück. Der Ort gehört wieder sich selbst. Still, verwunschen, ein verstecktes Fragezeichen. Bereit für den nächsten Fantasie-Ausbruch, von wem auch immer.
Autor: Michael Gleich
Michael Gleich
Kulturgut Schrabben Hof , Silberger Str. 32, 57399 Kirchhundem
Weitere Informationen erhalten Sie über die Tourist-Information Lennestadt & Kirchhundem: Tel: 02723/608-800, E-Mail: info@lennestadt-kirchhundem.de