Der Alltag der Bergleute, die ab 1749 den Philippstollen gruben, war wahrlich kein Zuckerschlecken. Sie kamen aus den umliegenden Dörfern. Morgens versorgten sie daheim Hühner und Schweine. Dann machten sie sich auf einen kilometerlangen Weg zum Eisenberg, 606 Meter hoch, bei Olsberg. Unter Tage schufteten sie zehn, zwölf Stunden, dann wieder Heimweg und nochmal um die Tiere kümmern. Kein Wunder, dass sie damals oft nur 40 Jahre alt wurden. Je weiter ich Herrn Stahlmecke in den Stollen folge, desto mehr kann ich spüren, wie feindlich diese Umgebung ist. Menschen haben hier eigentlich nichts zu suchen. Zu kalt, zu nass, zu windig, zu gefährlich. Aber sie wollten etwas vom Berg, sie wollten seine Schätze, in diesem Fall Eisenerz, in anderen Fällen auch Gold, das an vielen Stellen im Sauerland gefunden worden ist. Dafür trotzten sie Müdigkeit und Krankheiten und malochten täglich in Todesnähe.
Nach 600 Metern kann ich mich plötzlich strecken, den Kopf heben. Und sehe, dass wir in einer Grotte stehen. Wir zünden Kerzen an, die irgendwo bereit liegen. In ihrem Schein glänzen die Wände in allen Schattierungen von Rot, über uns wölbt sich der Fels in einer Höhe von mehr als vier Metern. Als alle Kerzen angezündet sind, entfaltet sich die ganze Szenerie. An einem kleinen Felsvorsprung unter der Decke hat sich eine Fledermaus festgekrallt, kopfüber hängend. Irgendwo im Hintergrund gurgelt das Grubenwasser. An der Seite der Grotte liegen flache Steine mannshoch aufgetürmt, eine Art Altar. Darauf steht ein schwarzer Lichtbogen, wie man ihn vom Erzgebirge kennt. Rechts daneben ein Bildstock der Heiligen Barbara, eine Figur aus dunklem Metall, umrahmt von hellem Holz. Sie ist die Schutzpatronin der Bergmänner. Ihr wurde dieser Platz gewidmet, als der Philippstollen zum Besucherbergwerk wurde.
AUF EINMAL ERSCHEINT MIR DIE GROTTE
WIE EIN UMGEDREHTER GIPFEL
Ihre Verehrung hat hier Tradition. Bevor die Männer morgens in den Stollen gingen, grüßten sie ein Bild der Hl. Barbara und baten um ihren Beistand. Abends, wenn sie das Tageslicht wieder erblickten, grüßten sie erneut und dankten für den Schutz. Schließlich erlebten sie immer wieder, dass Kumpel von herabstürzenden Felsbrocken verletzt wurden. Oder sogar verschüttet, unrettbar. Was blieb ihnen anderes übrig als Gottergebenheit? Selbst ich als Besucher, der ich relativ bequem und sicher bis zur Barbara-Grotte gelangt bin, kann ihre Verlorenheit in den kalten Gängen nachvollziehen, ihr unermessliches Bedürfnis nach Schutz und Trost.
Die Grotte erinnert mich, den leidenschaftlichen Bergwanderer, an die Szenerie im Hochgebirge. Die aufgetürmten Steinhaufen, die am Berg den Weg weisen. Der schroffe Fels. Die gurgelnden Bächlein. Die Stille oberhalb von 2000 Metern. Schließlich das Gipfelkreuz, in diesem Fall eine Barbara-Statue, um für überstandene Strapazen zu danken. Auf einmal erscheint mir die Grotte wie ein umgedrehter Gipfel, tief im Berg vergraben.
Nicht nur geologisch Interessierte besuchen den Stollen. Es hat in der Barbara-Grotte auch schon ein Posaunenchor gespielt, ein andermal wurden dort Gedichte vor kleinem Publikum zitiert. Seit draußen das Steigerhäuschen neben dem Stolleneingang für Trauungen zur Verfügung stehe, sagt Stahlmecke, wären auch Hochzeiten denkbar. Die Formel von den guten wie den schlechten Zeiten, unter Tage ausgesprochen, bekäme sicher besonderes Gewicht.
Ich verlasse den Philippstollen tief berührt und auch ein bisschen erleichtert. Mit blinzelnden Augen zurück in der Aprilsonne, frage ich mich, worin eigentlich die Kraft der Kraftorte besteht? Worauf beruht ihr Charisma? Ich spüre im Philippstollen und an vielen Orten, die ich bei meiner Erkundung im Sauerland besuche, eine hohe Intensität.
Der Soziologe Hartmut Rosa bezeichnet dieses Phänomen als Resonanz. Eigentlich stammt dieser Begriff aus der Physik und bezeichnet Schwingungen, die durch die Zufuhr von Energie ausgelöst werden. Rosa überträgt diesen Begriff auf die menschlichen Beziehungen. Zu anderen, zur Natur, überhaupt zur Welt. Etwas erreicht einen Menschen in seinem Inneren, und er reagiert darauf mit einer eigenen Antwort. So kann uns die Schönheit einer Blume berühren, eine Gedichtzeile, der Blick in die Augen eines anderen Menschen, aber auch der Geruch eines Misthaufens. Das löst in uns Gedanken, Gefühle, Handlungen aus. Resonanz ist jedoch kein Echo, nichts Mechanisches. Die gleiche Berührung kann bei einem anderen Menschen ganz andere Reaktionen bewirken.
Natur ist für uns Menschen ein besonders wichtiger Resonanzraum. Wir sind selbst Natur. Wenn wir uns darin bewusst bewegen, erkennen wir unser eigenes Selbst, unsere eigene Lebendigkeit. Wie wir lieben und kämpfen, essen und trinken, atmen und schlafen. Berührt uns Natur, berühren wir uns immer auch selbst. So entsteht die Kraft, die ich spüre, so entstehen beseelte Orte.
DER DICK MIT MOOS GEPOLSTERTE WALDBODEN
BEGINNT ZU DAMPFEN
Viele der sauerländischen Kraftorte liegen in der Natur. So auch der Hollenfelsen, eine Halbtageswanderung südlich vom Philippstollen. Bevor wir vom Parkplatz am Ortsrand von Bödefeld hinauflaufen, erzählt mir mein Begleiter, der Fotograf Klaus-Peter Kappest, die Legende von den Hollen. Sie seien gute Waldwesen. Und deshalb sei das gar kein Fels, zu dem wir wollen, sondern das Hollenhaus.
Und so geht die Sage: Tief eingegraben im Gestein hausten die Hollen, und sie seien freundlich zu freundlichen Menschen und hilfreich in der Not. Sie liebten die Bödefelder Kinder, die in der Nähe des Felsens gerne spielten und gesellten sich zu ihnen. Abends, wenn die Kleinen nach Hause mussten, schenkten sie ihnen schöne, glänzende Steine. Pures Gold! Das weckte die Gier der Erwachsenen. Sie suchten das Versteck des Schatzes, um ihn zu rauben. Zur Strafe verstopften die Hollen alle Eingänge und verwandelten so ihr Haus in einen riesigen Felsen. Sie wurden nie wieder gesehen.
Seit Jahrhunderten berührt dieser Felsen die Menschen in der Umgebung. Die alte Sage, die sie darum ersponnen, ist ein Ausdruck dieser Resonanz. Wir nähern uns auf einem Forstweg, der sanft ansteigt. Es hat zu regnen begonnen, erst leicht, dann in Bindfäden, und jetzt, als wir auf dem Aussichtspunkt oben auf dem Felsen angekommen sind, prasselt Hagel auf uns nieder. Wir sind uns einig: Sobald wie möglich zurück ins Trockene. Doch dann hört der Hagel abrupt auf, die Sonne kämpft sich durch, und wir werden Zeugen eines göttlichen Schauspiels. Der dick mit Moos gepolsterte Waldboden beginnt zu dampfen. Nebel steigt auf. Sonnenstrahlen durchdringen das Kronendach der Buchen, fächern sich auf, als würde ihr Licht durch farbige Kirchenfenster gebrochen. Die knallgelben Flechten am Felsen beginnen zu leuchten. In dieser Kulisse wirken die kahlen Stämme abgestorbener Bäume wie Säulen und Pfeiler eines mächtigen Doms, die großen Baumpilze daran wie steinerne Skulpturen. Mir fällt eine Zeile aus dem Gedicht »Die Kirche der Natur« ein: »Drin laden moosbedeckte Bänke zu stiller Andacht freundlich ein.«
Mein Begleiter empfindet ähnlich. »Wir leben in einer vom Menschen durch und durch gestalteten Landschaft«, sagt Klaus-Peter Kappest. »Aber hier, beim Hollenfelsen, da bricht so ein Brocken urwüchsiger Natur aus dem Boden. Das ist für mich die große Kathedrale des Waldes, wo ich mich der Urkraft der Natur und Gott näher fühle als an anderen Orten.«
RESONANZ LÄSST SICH NICHT HERSTELLEN.
SIE GESCHIEHT
Zeit für ein Zwischenfazit. Wie steht es mit meiner Erkundung, was die Seelenorte des Sauerlandes gemeinsam haben? Nach meiner Erfahrung wirken sie immer dann kraftvoll, wenn sie ästhetisch und authentisch sind; wenn sie für die Menschen in ihrer Umgebung eine besondere Bedeutung besitzen, nicht nur heute, sondern auch schon zu früheren Zeiten; und wenn sie die Menschen emotional, geistig und spirituell berühren. Resonanz lässt sich nicht herstellen. Sie geschieht. Jedoch lassen sich Bedingungen nennen, die förderlich sind, damit in Menschen etwas zum Schwingen kommen kann. Dazu gehören direkter Kontakt, mit den Gedanken ganz da sein, Entschleunigung und Muße. Viele dieser begünstigenden Faktoren kommen beim Wandern zum Tragen. Es zählt zu den Resonanzsportarten, wie die englische Trendforscherin Oona Horx-Strathern sie nennt:
»Sie können einen Impuls auslösen, der unser Leben, unsere Sichtweise, unsere inneren Einstellungen verändert. Über die zu erwartenden positiven Auswirkungen auf unser körperliches und geistiges Wohlbefinden hinaus. Resonanzsport zieht Menschen an, die auf der Suche nach einer neuen Verbundenheit sind.« All das trifft auf Wandern besonders stark zu.
Am Beispiel des Hollenfelsens wird deutlich, wie wichtig es ist, gute Bedingungen zu schaffen, damit uns ein Ort berühren kann. Auf dem Aussichtspunkt oben auf den Klippen haben wir zwar eine schöne Sicht ins Tal, spüren jedoch weniger Resonanz als auf dem neuen Pfad, der vom Forstweg aus hoch auf den ehrfurchtsgebietenden Felsen führt.
Der langsame Aufstieg eröffnet immer neue spektakuläre Blicke auf die steile Wand. Schritt für Schritt, ein Herantasten, ein Einlassen. Felsskulpturen treten hervor, in die wir Fabelwesen hinein fantasieren. Wir genießen das Farbenspiel von Flechten und Moosen, den Tanz von Nebel und Sonne. Die geschickte Dramaturgie des Heranführens lässt den Ort ›im besten Licht erstrahlen‹.
Vom Hollenfelsen aus fahre ich Richtung Osten, nach Düdinghausen. Im Internet hatte ich die Bezeichnung ›Erlebnisdorf für Natur und Geschichte‹ gefunden, das hatte Neugier geweckt. Dort befindet sich auch der ›Freistuhl‹, ein Gerichtsplatz, der als Kraftort ausgewählt worden ist. Auf Fotos hatte ich lediglich zwei behauene Steine gesehen und mich gefragt, was daran so faszinierend sein soll.
›BERENDES‹ HATTEN UM 1600
EINEN HEXEREI-STREIT MIT EINEM NACHBARN
An der Dorfkirche treffe ich Horst Frese. Der 73-Jährige ist Vorsitzender des Heimat- und Verkehrsvereins. Erste Überraschung: Wir kennen uns von früher. Er arbeitete als Jurist im Bereich Naturschutz beim Regierungspräsidenten, ich war Zivildienstleistender beim BUND in Münster. Nach seiner Pensionierung ist er an seinen Geburtsort zurückgekehrt. Seine Liebe zu dem Dorf und seinen 460 Einwohnern schlägt durch, wenn er seiner heutigen Lieblingsbeschäftigung nachgeht: Er erzählt Düdinghausen.
Wir schlendern an Fachwerkhäusern entlang, viele davon über 100 Jahre alt, das ›Michels‹ genannte steht sogar schon seit 1677. Frese kennt alle Häusernamen, die sich über Jahrhunderte erhalten haben, auch wenn Gebäude abgerissen und an gleichem Platz wieder aufgebaut wurden. Er kennt auch die Geschichten hinter den vier Wänden. Aus ›Königs‹ ist einer nach Amerika ausgewandert. ›Berendes‹ hatten um 1600 einen Hexerei-Streit mit einem Nachbarn. Eine Straße weiter gingen 1723 der evangelische und der katholische Pfarrer aufeinander los, nicht mit geistlichen Argumenten, sondern mit Brettern. Und ausgerechnet die ›Jägers‹ betätigten sich als Wilderer: Vater und Sohn wurden 1735 im Wald auf frischer Tat ertappt, erschossen und unehrenhaft verscharrt – neben dem Friedhof. So erzählt sich Frese von Haus zu Haus, sichtlich stolz auf den historischen Reichtum des kleinen Dorfes.
Am südlichen Rand gelangen wir zum Freistuhl. Er gehört zur historischen Freigrafschaft Düdinghausen und ihren acht sächsischen Dörfern. Ein herrschaft licher Sitz aus Stein, mit eingemeißeltem Stern aus dem Wappen derer von Waldeck, zu deren Grafschaft das Dorf lange gehörte. In die Oberfläche des ebenfalls steinernen Richtertischs wurde ein Schwert eingraviert, Symbol für die Macht über Leben und Tod. Daneben eine junge Linde, wie sie traditionell an Gerichtsplätzen gepflanzt wurden. Nüchtern betrachtet gibt es an dieser Stelle nicht mehr als zwei Steine, ein Bäumchen und den Blick in eine weitläufige Bauernlandschaft mit Wiesen und Äckern.
Doch als Horst Frese erzählt, beginnt in meinem Kopfkino ein Historiendrama: »Hier auf dem Stuhl saß der Freigraf. Er wurde vom Grafen eingesetzt, um Recht zu sprechen. Links und rechts verteilten sich sieben Schöffen. Das waren angesehene Bauern mit erheblichem Landbesitz. Sie bestimmten selbstbewusst die Urteile mit. Das Gericht tagte, der germanischen Tradition des ‚Thing‘ folgend, unter freiem Himmel. Deshalb musste der Stuhl auch aus Stein sein. Die Verhandlungen waren öffentlich. Wenn die Dorfleute mit dem Urteil des Freigrafen und der Schöffen nicht einverstanden waren, musste weiterverhandelt werden. Das hatte durchaus demokratischen Charakter. Neben dem Schwert lag manchmal auch ein Seil auf dem Tisch, in den Fällen, wo ein Todesurteil drohte. Das wurde auch gleich vollstreckt.«
Aber meist sei es bei den Verhandlungen um banalen Streit gegangen. Ein Grenzstein wurde heimlich versetzt, Nachbars Kuh verletzt, Scherben bei einer Wirtshausprügelei. Acht Dörfer unterlagen der Gerichtsbarkeit, die von diesem Ort ausging. »Das war echte Friedensarbeit«, erklärt Horst Frese. Es sei darum gegangen, Eintracht und Harmonie immer wieder neu herzustellen – wichtig in jenen Zeiten, als die Dörfler auf Gedeih und Verderb aufeinander angewiesen waren. Es wurde gerichtet über »freye Güter, Wege und Stege, auch Schuld und Schaden und dergleichen bürgerliche Sachen«. Täter-Opfer-Ausgleich wurde schon damals praktiziert. Wer einem anderen geschadet hatte, musste Ausgleich leisten. Das galt sogar bei Ehebruch: Der Nebenbuhler hatte dem Gehörnten Schadensersatz zu zahlen.
DÜ WOL WAIST WARUM
Seltener und unter Ausschluss der Öff entlichkeit tagte eine Art Kriminalgericht, die ›heimliche Acht‹. Tatort Düdinghausen: An einem Septembertag des Jahres 1539 heftete ein Knecht namens Hanns Unland einen Fehdebrief an die Kirchentür. Er erklärte dem Bauern Thiele die Feindschaft – zur Wahrung seiner Ehre. ›Dü wol waist warum‹, du weißt schon warum. Er streute im Dorf, der Thiele habe ihn anstiften wollen, den neuen lutherischen Pfarrer umzubringen. War der Bauer ein heimlicher Rebell gegen die Herren von Waldeck, unter deren Schutz der Pfarrer stand? Oder nahm da einer Rache für niedrigen Knechteslohn? Als Unland sich aus dem Staub machte, wurde er verfolgt, verhaftet und kam vor die heimliche Acht. Der Freigraf hatte recherchiert und konfrontierte den Knecht mit dessen früheren »Mißetaten, Diebstahl und Reuberey«, sogar Morde soll er begangen haben. Die Intrige ging für den Knecht nicht gut aus: Er endete am Galgen.
Von Grenzstreitigkeiten zwischen den Waldeckschen und den Kurkölnischen erzählt Frese, vom Kampf um Gold, das in der Nähe gefunden wurde, von Liebeshändeln und politischen Ränkespielen. Geschichten aus der Geschichte berühren uns, weil wir uns darin wiedererkennen, unsere eigenen Ängste und Konflikte, Leiden und Freuden. Von all dem berichtet Frese, während wir, bei Sonnenschein und von Hummeln umsummt, auf dem Freistuhl sitzen. Mit seinen Beschreibungen hat er zwei Steinblöcke und ein Bäumchen in die Kulisse für einen Krimi verwandelt. »Man sieht nur, was man weiß«, das Goethe-Wort gilt. Doch Horst Frese hat mehr als nur historisches Wissen. Dass mich seine Schilderungen berühren, liegt vor allem an der Leidenschaft , mit der er sich der Geschichte des eigenen Dorfes widmet. Tief verbunden mit seiner Heimat wird er zum glaubwürdigen Zeugen. Der Freistuhl etwa ist ihm so wichtig, dass er dafür eigenen Grund gestiftet hat. Der Funke springt über.
Nachdem ich mich von ihm verabschiedet habe, wird mir klar, wie wichtig solche passionierten Erzähler für die Sauerland-Seelenorte sind. Alle Orte wurden von Menschen vorgeschlagen, die in ihrer Nähe leben, die sie gut kennen, denen sie viel bedeuten. Kraftorte wirken auch deshalb, weil sie vom Feuer der Begeisterung belebt werden. Ich habe sie bei Wolfgang Kraft gespürt, der mir das Geheimnis der Almequellen offenbarte; bei Klaus-Peter Kappest, der als Fotograf international tätig ist und für den Hollenfelsen schwärmt; bei Siegfried Stahlmecke, der unermüdlich Besucher in die Barbara-Grotte führt. Ich erlebe sie auch bei den Orte-Erzähler*innen, die ich später noch treffen werde.
DIE FORMEL LAUTET:
HEIMATVERBUNDEN UND WELTOFFEN.
Ihnen ist eine weitere Eigenschaft gemeinsam, die sie als wichtige und geeignete Medien empfiehlt: Sie verfallen nicht in Verklärung und Heimattümelei. Der Stolz und die Freude über den eigenen regionalen Reichtum schließt den Respekt gegenüber Andersartigkeit ein. Die Formel lautet: heimatverbunden und weltoffen.
Eine solche Haltung erscheint mir eine wichtige Voraussetzung zu sein, um auf sympathische Weise Besucher mit den Kraftorten bekannt zu machen. Mir fällt die Rede von Bundespräsident Frank Walter Steinmeier ein, in der er über ein modernes Verständnis von Heimat spricht: »Je schneller die Welt sich um uns dreht, desto größer wird die Sehnsucht nach Heimat. Dorthin, wo ich mich auskenne, wo ich Orientierung habe und mich auf mein eigenes Urteil verlassen kann. Heimat weist in die Zukunft, nicht in die Vergangenheit. Heimat ist der Ort, den wir als Gesellschaft erst schaffen.«
Die Recherche an den Sauerland-Seelenorten, die Begegnungen mit offenen und warmherzigen Menschen sind für mich eine heilsame Erfahrung. Ich muss zugeben, dass ich als Jugendlicher nicht weit über die Achse Oberhundem – Kirchhundem – Altenhundem
hinaus gekommen bin. Jetzt werden Facetten sichtbar, eine größere Vielfalt. Alte Klischees machen Platz für differenzierte Wahrnehmung. Jeder Ort inspiriert mich auf seine ganz eigene Weise, jeder spiegelt andere Aspekte menschlicher Lebendigkeit.
Meine Stimmung an diesen Orten, da bin ich sicher, kann an anderen Tagen auch ganz anders ausfallen. Bei anderen Besuchern sowieso. Resonanz ist nicht berechenbar. Berührung und die Antwort darauf folgen dem Moment. Und dennoch sind Gemeinsamkeiten zu erkennen: Alle Orte laden ein zum Abschalten und zur Einkehr. Es sind keine Rummelplätze.Am besten beschrieben finde ich sie mit den Worten: lebendige Stille.