Medebach-Düdinghausen, Zum Sürendahl (51.257473 | 8.692625)
Düdinghausen hatte ich im Internet unter der Bezeichnung „Erlebnisdorf für Natur und Geschichte“ gefunden. Das hatte meine Neugier geweckt. Unter dem „Freistuhl“, einem Gerichtsplatz, konnte ich mir allerdings nicht viel vorstellen. Auf Fotos waren lediglich zwei behauene Steine zu sehen, und ich habe mich gefragt, was daran so faszinierend sein soll. An der Dorfkirche treffe ich Horst Frese. Er ist Vorsitzender des Heimat- und Verkehrsvereins und will mir den Freistuhl nahebringen. Seit seiner Pensionierung geht er seiner Lieblingsbeschäftigung nach: Er erzählt Düdinghausen.
Wir schlendern entlang von Fachwerkhäusern, viele davon über 100 Jahre alt. Frese kennt alle Häusernamen, die sich über Jahrhunderte erhalten haben, auch wenn Gebäude abgerissen und an gleichem Platz wieder aufgebaut wurden. Er kennt auch die Geschichten hinter den vier Wänden. Aus „Königs“ ist einer nach Amerika ausgewandert. „Berendes“ hatten um 1600 einen Hexerei-Streit mit einem Nachbarn. Eine Straße weiter gingen 1723 der evangelische und der katholische Pfarrer aufeinander los, nicht mit geistlichen Argumenten, sondern mit Zaunlatten. Und ausgerechnet die „Jägers“ betätigten sich als Wilderer: Vater und Sohn wurden 1735 im Wald auf frischer Tat ertappt, erschossen und unehrenhaft verscharrt, neben dem Friedhof. So erzählt sich Frese von Haus zu Haus, sichtlich stolz auf den historischen Reichtum des kleinen Dorfes.
Am südlichen Rand gelangen wir zum Freistuhl. Er gehört zur historischen Freigrafschaft Düdinghausen und ihren acht sächsischen Dörfern. Ein herrschaftlicher Sitz aus Stein, mit eingemeißeltem Stern aus dem Wappen derer von Waldeck, zu deren Grafschaft das Dorf lange gehörte. In die Oberfläche des ebenfalls steinernen Richtertischs wurde ein Schwert eingraviert, Symbol für die Macht über Leben und Tod. Daneben eine junge Linde, wie sie traditionell an Gerichtsplätzen gepflanzt wurden. Nüchtern betrachtet, gibt es an dieser Stelle nicht mehr als zwei Steine, ein Bäumchen und den Blick in eine weitläufige Bauernlandschaft mit Wiesen und Äckern.
Doch als Horst Frese erzählt, beginnt in meinem Kopfkino ein Historiendrama: „Hier auf dem Stuhl saß der Freigraf, die Burg Eisenberg der Waldecker Grafen immer im Blick. Von denen war er eingesetzt, um Recht zu sprechen. Links und rechts verteilten sich sieben Schöffen. Das waren angesehene Bauern mit erheblichem Landbesitz. Sie bestimmten selbstbewusst die Urteile mit. Das Gericht tagte, der germanischen Tradition des ‚Thing‘ folgend, unter freiem Himmel. Deshalb musste der Stuhl auch aus Stein sein. Die Verhandlungen waren öffentlich. Wenn die Dorfleute mit dem Urteil des Freigrafen und der Schöffen nicht einverstanden waren, musste weiterverhandelt werden. Das hatte durchaus demokratischen Charakter. Neben dem Schwert lag manchmal auch ein Seil auf dem Tisch, in den Fällen, wo ein Todesurteil drohte. Das wurde auch gleich vollstreckt.“
Aber meist sei es bei den Verhandlungen um banalen Streit gegangen. Ein Grenzstein wurde heimlich versetzt. Nachbars Kuh verletzt. Scherben bei einer Wirtshausprügelei. Acht Dörfer unterlagen der Gerichtsbarkeit, die von diesem Ort ausging. „Das war echte Friedensarbeit“, erklärt Horst Frese. Es sei darum gegangen, Eintracht und Harmonie immer wieder neu herzustellen – wichtig in jenen Zeiten, als die Dörfler auf Gedeih und Verderb aufeinander angewiesen waren. Es wurde gerichtet über „freye Güter, Wege und Stege, auch Schuld und Schaden und dergleichen bürgerliche Sachen“. Täter-Opfer-Ausgleich wurde schon damals praktiziert. Wer einem anderen geschadet hatte, musste Ausgleich leisten. Das galt sogar bei Ehebruch: Der Nebenbuhler hatte dem Gehörnten Schadensersatz zu zahlen.
Seltener und unter Ausschluss der Öffentlichkeit tagte eine Art Kriminalgericht, die „heimliche Acht“. Tatort Düdinghausen: An einem Septembertag des Jahres 1539 heftete ein Knecht namens Hanns Unland einen Fehdebrief an die Kirchentür. Er erklärte dem Bauern Thiele die Feindschaft – zur Wahrung seiner Ehre. „Dü wol waist warum“, du weißt schon warum. Er streute im Dorf, der Thiele habe ihn anstiften wollen, den neuen lutherischen Pfarrer umzubringen. War der Bauer ein heimlicher Rebell gegen die Herren von Waldeck, unter deren Schutz der Pfarrer stand? Oder nahm da einer Rache für niedrigen Knechteslohn? Als Unland sich aus dem Staub machte, wurde er verfolgt, verhaftet und kam vor die heimliche Acht. Der Freigraf hatte recherchiert und konfrontierte den Knecht mit dessen früheren „Mißetaten, Diebstahl und Reuberey“, sogar Morde soll er begangen haben. Die Intrige ging für den Knecht nicht gut aus: Er endete am Ast einer Eiche.
Von Grenzstreitigkeiten zwischen den Waldeckschen und den Kurkölnischen erzählt Frese, vom Kampf um Gold, das in der Nähe gefunden wurde, von Liebeshändeln und politischen Ränkespielen. Geschichten aus der Geschichte berühren uns, weil wir uns darin wiedererkennen, unsere eigenen Ängste und Konflikte, Leiden und Freuden. Von all dem berichtet Frese, während wir, bei Sonnenschein und von Hummeln umsummt, auf dem Freistuhl sitzen. Mit seinen Beschreibungen hat er zwei Steinblöcke und ein Bäumchen in die Kulisse für Krimis verwandelt, die mich, den Zuhörer, an den Freistuhl fesseln.
Autor: Michael Gleich
Michael Gleich
Hikers' parking lot at the church square in Düdinghausen.
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In the 16th century the Freigraf held court twice a year at the Freistuhl Düdinghausen. There everything was negotiated, which gave it in the villages at conflicts. Theft of grain, for example, or if someone had stolen a pottery or a sheet.
Eight villages were subject to the jurisdiction that emanated from this place. It was a matter of establishing harmony again and again - important in those times when the villagers depended on each other for better or worse.